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Dank an Frau Trummer & Frau Kunz vom Bürgerbüro der Stadt Erlangen sowie Herrn Goldfuß von den Erlanger Stadtwerken für die Hilfe bei der Fahndung nach Bildern.


5 Jahre Waschbrett oder: Linie 294 - ein Resumee

 
     
 

Es gibt solche und solche Fortbewegungsmittel. Während diejenigen, die es sich leisten können, mit ihren individuellen 4 Rädern durch die Gegend kutschieren, bin ich leider (oder zum Glück) seit langem auf MAN oder Mercedes mit Chauffeur angewiesen. Beides muß ich mir allerdings mit zahlreichen anderen teilen. Das Leben kann grausam sein. Ahaa, das ganze hat aber einen Vorteil: man kreuzt die Wege zahlreicher anderer Menschen, was dem am Steuer rumtelefonierenden BMW-Fahrer verwehrt bleibt. Zumindest muß man sich so nicht ständig mit denselben Nasen unterhalten.

 
     
 

In besonders unangenehmer - oder angenehmer - Erinnerung blieben mir die alten Kisten aus den 60er Jahren. Viele kennen sie sicher noch - 3 Treppenstufen zum Halleluja, hinten links das Auspuffrohr nach oben - der einzig warme Platz im Winter, zwischen Sneakern und vermoderten Ethnotaschen bekiffter Teeniegören. Und diese schönen Löcher in den Sitzen, wo man wenigstens heimlich seinen alten Kaugummi verstecken konnte (pfui !!!). Aber, was wäre mein Leben ohne diese Kisten geworden ... ich habe sie irgendwann "Waschbrett" getauft. Wer das Fahrgefühl kennt, weiß schon, warum.

Ging meine Uhr irgendwie wieder nach?

 
 
 
 
 

So wurde die Linie 294 nach Düsseldorf und meiner erlanger Wohnung zu meiner dritten Heimat, zwischen Erlangen-Sieglitzhof und Erlangen-Eltersdorf. Eigentlich hätte ich meine Wohnung aufgeben können. Schließlich wurde diese nicht von netten Studentinnen genutzt. Zumindest nicht ohne Linie 294 davor. Zum Beispiel Nadine, einer netten Bekanntschaft, die ich einer Linkskurve (oder Rechtskurve, je nach Betrachtungsweise) zu verdanken hatte. Also, diese 100°-Kurve vor der Haltestelle "Markuskirche", die wegen der exorbitant langen Ampelphase an der Kreuzung davor ;o) regelmäßig mit 70 Sachen durchkurvt wird. Und plötzlich saß da Nadine auf meinem Schoß. Nadine war anspruchslos, sie brauchte lediglich 2 Becher Kaffee und ein Mon Cheri, um zufrieden zu sein. Leider war nach 3 Wochen wieder alles vorbei und die Pralinenschachtel leer.

 
     
 

Unangenehmer war Heike. Sie hatte das Bedürfnis, mir bei 5 Minuten geistiger Abwesenheit irgendwelche klebrigen Briefe in den Rucksack zu stopfen. Anscheinend hatte sie den Eindruck, ich wäre im Bus damit beschäftigt, von einem Inselurlaub zu zweit zu träumen. Mein damaliger Wohnungsnachbar wollte sie aber auch nicht. Er war mit seinen 3 Beziehungen schon genügend ausgelastet. Wahrscheinlich sucht Heike noch heute nach einem kitschbegabten Partner zum gemeinsamen Würstchengrillen bei Sonnenuntergang auf Lanzarote. Ich steh nun mal eher auf geistig umnachtete Afterhours bei Sonnenaufgang in London. Leider fährt da Linie 294 nicht hin. Mein entsprechender Antrag an die Stadtwerke wurde leider abgelehnt ;o).

 
 
 
 
 

Mein Liebling war eine Zeitlang aber keine Frau, sondern Horst. Von Horst erfuhr man immer die aktuellsten Ereignisse aus Sport und Politik. Zwar hörte ihm meistens niemand zu, wenn er seinem neuesten Opfer unaufgefordert das Ohr abnagte, aber daß der Club gestern 0:2 verloren hat ... Katastrophe!!! Leider wurde er nach einigen Monaten zum Grund, mir für DM 29,90 doch noch einen Walkman zu kaufen. Also, so billig ist Busfahren nun auch wieder nicht.

 
     
 

Irgendwann im Jahr 1996 verschwanden dann auf einmal die alten Kisten. Anonyme Hochtechnologiewürfel kreuzten plötzlich durch die Stadt; nach Auskunft der Stadtwerke kurven die alten Modelle jetzt in der Partnerstadt Wladimir, Russische Föderation, herum. Man sollte den Menschen dort ja auch mal eine Chance geben, eine rollende Heimat zu finden. Ich beherrsche mich aber mal an dieser Stelle, beende mein lästerliches Reden und wünsche allen weiterhin gute Fahrt ...

Sehen sie nicht irgendwie ganz traurig aus?


Sincerely yours,
 
     [wo:di:le:]